Der systemische Ansatz ist ganzheitlich und wertschätzend.

Schau dir ein Mobile an: Wenn du mit dem Finger ein Teil des Gebildes anstupst, dann geraten auch alle anderen Teile des Mobiles in Schwingung. Dieses eine Teil gibt den Impuls, dass alle anderen Teile in eine Bewegung kommen. Das Mobile ist ein System, was sich gegenseitig bedingt und als Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile.

Das Mobile ist systemisch gesehen ein Sinnbild für die Beziehung eines jeden Individuums zur Familie, in der Partnerschaft, zum Kollegium sowie die Beziehung zu sich selbst. Wir Menschen sind Gemeinschaftswesen und wir beeinflussen uns gegenseitig.

Obwohl auch unser System in den Blick genommen wird und wir uns auch in die Perspektive unserer Mitmenschen versetzen können, um Zusammenhänge besser zu verstehen, so liegt der Fokus zunächst einmal auf der Person, die in die Beratung oder ins Coaching kommt. Sie ist diejenige, die durch ihre Bewegung eine Veränderung in ihrem System bewirken kann und in ihrer Handlungskompetenz, in ihrem Selbstwert gestärkt wird, deren Ressourcen und Stärken wieder aktiviert werden.

Bei einem Konfliktthema würde man in der systemischen Arbeit erst einmal daran arbeiten, was DU selbst tun kannst, um Änderungen deines Systems zu bewirken. Denn: Vieles im Leben können wir nicht verändern. Das Leben ist voll von unvorhersehbaren Ereignissen, Schicksalsschlägen, Verlusten, Niederlagen, mit denen wir umgehen lernen müssen.

Wir können Vergangenes nicht mehr ändern. Wir können andere Menschen und das, was uns so sehr an ihnen stört, sowie unangenehme Situationen und Umstände manchmal gar nicht verändern. Wir können aber unsere innere Haltung dazu verändern – und uns selbst. Und das ist ein wertvoller Schatz, den es zu heben gilt. Hier können wir etwas TUN.

Im systemischen Grundverständnis gehen wir also davon aus, dass jeder die Verantwortung selbst übernehmen kann, seine Verhaltensmuster, Gefühle oder inneren Einstellungen dazu innerhalb seines Systems ständig neu zu überprüfen und  ggf. zu verändern.

Jede Einzelne hat die Freiheit zu entscheiden, was sie davon in ihren Alltag integrieren möchte und was nicht.

Der Begriff „System“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „zusammenstellen, verbinden einzelner Teile zu einem Gebilde, dessen wesentliche Elemente aufeinander bezogen sind.“ (siehe Petra Rechenberg-Winter: Kursbuch systemische Trauerbegleitung. 2010. Seite 17.) Gefühle, wie Trauer, Angst, Scham, Traurigkeit oder Verzweiflung zum Beispiel, werden im systemischen Verständnis nicht isoliert als pathologisch, also „krankhaft“ betrachtet, sondern erst einmal als natürliches Gefühl verstanden (neben vielen anderen in dir).

Meine Klient:innen stehen in einer ständigen Wechselwirkung zwischen ihren eigenen Einstellungen, Werten, Glaubenssätzen (meist geprägt aus der Kindheit) und ihrem inneren Erleben (ihrem Selbstbild) sowie den Meinungen und Reaktionen ihrer Umwelt (ihrem Fremdbild). Sie bilden ein System und damit ein einzigartiges und komplexes Ganzes, was mehr ist als die Summe seiner Teile.

Wenn ich Klient:innen gegenüber sitze, dann bilden nicht nur sie mit ihrem Fremd- und Selbstbild, mit ihrer Herkunfts- und Gegenwartfamilie ein System, sondern auch ich als Beraterin oder Therapeutin stelle ein System dar. Wir bilden miteinander ein Klient:in-Berater:in-System, was einer ständigen Wechselwirkung ausgesetzt ist. In einer therapeutischen Gruppe ist diese Wechselwirkung noch komplexer: Zusätzlich zu jeder/m einzelnen und der Gruppenleitung wird die ganze Gruppe zu einem eigenständigen System, was aufeinander einwirkt und eine eigene Dynamik entwickelt.

Deswegen ist es so wichtig, dass jede/r, Therapeut:in über viel Selbsterfahrung, Eigenreflexion und Kenntnisse aus dem therapeutischen Setting verfügt, um rechtzeitig (vor allem bewusst) zu merken, welche eigenen Themen unter Umständen getriggert werden.

Dies findet immer statt. Aber es ist ein Unterschied, ob mir das als professionelle Helfer:in bewusst ist – oder nicht. Ich habe mir im Laufe meiner ganzen Ausbildungszeit bis heute immer viel Zeit für Eigenreflexion genommen, um zum Beispiel mit Trauer „gesund und hilfreich“ arbeiten zu können. Das ist unsere Verantwortung, egal ob Du beratend oder therapeutisch tätig bist.

Im Folgenden beschreibe ich Dir in einem Beispiel aus meiner Praxis, wie ein Paarkonflikt mit dem systemischen Ansatz gelöst werden kann. Hier bekommst du vielleicht schon ein Gefühl dafür, welche Ziele dieser humanistische und wertschätzende Ansatz verfolgt. In zweiten Teil dieser Blog-Reihe gehe ich noch näher auf die systemische Haltung ein.

Tine ist 40 Jahre. Sie kommt zu mir in die Praxis, weil sie furchtbar genervt darüber ist, dass ihr Partner Thomas so chaotisch und unordentlich ist. Sie fühlt sich eingeengt und hat das Gefühl, die ganze Zeit damit beschäftigt zu sein, Dinge wegzuräumen. Sie findet, Thomas nehme damit viel zu viel Raum ein und überhaupt, sie müsse sich auch im Alltag um alles alleine kümmern. Jedes Mal, wenn Tine ihn darauf anspricht, endet es in einer Eskalation, gegenseitigen Vorwürfen und Beschimpfungen. Beide sind dann total erschöpft und genervt.

In einem Gespräch finden wir heraus, dass meine Klientin schon in ihrer Kindheit viel Verantwortung für sich und ihre Geschwister übernommen hat. Ihre Mutter war berufstätig, der Vater viel unterwegs. Die Atmosphäre war, so schildert es Tine, häufig angespannt und konfliktbehaftet, wenn die ganze Familie zusammen war.

Aus heutiger Sicht, so sagt Tine, sei ihre Mutter immer wieder überfordert gewesen mit der Situation und habe wenig Unterstützung ihres Mannes in Familienangelegenheiten erhalten.

Tines Strategie, um gut durchs Leben zu kommen, war, ihren Fokus auf die anderen in ihrer Familie zu richten und dafür zu sorgen, dass es allen gut ging.

Sie hat eingekauft, geputzt, Streit geschlichtet, getröstet und den Geschwistern häufig bei den Hausaufgaben geholfen. Für sie war es selbstverständlich, dass ihre eigenen Bedürfnisse gar keine wirkliche Rolle gespielt haben. Wenn sie mal gemeckert hat, dann war sie in den Augen der Eltern „undankbar“ oder hat gehört, dass sie sich nicht so anstellen solle.

Tine hat für sich schon früh den Glaubenssatz entwickelt: „Ich spiele keine Rolle. Ich muss es den anderen recht machen.“

Tine konnte also nicht ihre eigenen Bedürfnisse entwickeln und heute sagt sie: „Ich weiß auch gar nicht, welche Bedürfnisse ich eigentlich habe oder was mir gut tut. Ich weiß nur, was ich nicht mehr möchte.“

Das ist häufig so, dass wir an einem Punkt im Leben sind, an dem unsere innere Stimme ziemlich deutlich sagt: „DAS möchte ich so nicht mehr.“

Häufig fühlen wir uns dann ohnmächtig und hilflos,weil wir erst einmal keine Ahnung haben, wie es anders sein könnte. Mit dem systemischen Ansatz – ich schaue, was ICH jetzt brauche, was ICH in meinem Leben verändern möchte, wie ICH mich anders fühlen möchte – würdigen wir erst einmal die Persönlichkeitsanteile von Tine, die sich traurig, genervt oder verletzt, allein oder im Stich gelassen fühlen.

Und wir würdigen auch, was sie schon alles im Leben geleistet hat. Wieviel Energie Tine am Tag damit verbringt, zu schauen, dass es anderen in ihrer Familie, in ihrem Freundeskreis, gut geht.

Tine hat nie gelernt, angemessen und klar zu sagen, was SIE gerne möchte und was SIE braucht.

Nachdem sie das in unseren Sitzungen Schritt für Schritt hinterfragt, nachgespürt, visualisiert oder aufgestellt hat, kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie und ihr Partner sich jedes Mal, wenn sie streiten, wie kleine Kinder und nicht wie Erwachsene verhalten.

Jeder für sich fällt in ein „altes Muster“, wenn es darum geht, eine Konfliktsituation zu lösen. Das Paar bleibt jedes Mal darin stecken und scheitert.

Da es im systemischen Arbeiten darum geht, Unterschiede zu bilden, findet Tine für sich in unseren Gesprächen andere Handlungsmöglichkeiten, die eher ihrem erwachsenen Sein entsprechen.

Sie wünscht sich zum Beispiel Verständnis für ihr Bedürfnis nach Ordnung, Anerkennung für das, was sie alles „drum herum“ leistet, mehr Zeit und Raum für sich. Sie wünscht sich auch, angenommen und nicht weggestoßen, in den Arm genommen und getröstet zu werden, wenn es ihr nicht gut geht.

In diesem Moment spürt Tine in sich eine große Bedürftigkeit, die sonst im Alltag gar keinen Raum hat.

Vieles, was Tine damals nicht von ihren Eltern bekommen hat, projiziert sie unbewusst auf ihren Partner. Das ist ein häufiges Phänomen, wir machen das eigentlich (unbewusst) alle – sonst gäbe es auch keine Konflikte 🙂

Damit schafft sie hohe Erwartungen, die Thomas gar nicht erfüllen kann (und möchte). Die eigene Bedürftigkeit anzuerkennen und anzunehmen ist erst einmal traurig. Und erleichternd zugleich, weil wir alle in uns diese Verletzlichkeit und Bedürftigkeit haben. Die Strategien, unsere Verletzlichkeit nicht zu zeigen, äußern sich dann in unserem Leben ganz anders: einige verhärten innerlich, einige sind stark nach außen fokussiert und verlieren sich selbst aus dem Blick.

Tine lernt in den Coachings, in der Arbeit mit unserem inneren Kind(ern), Persönlichkeitsanteilen, verletzte und kindliche Anteile zu integrieren. Sie lernt, in Konfliktsituationen in ihrem Erwachsenen-Ich zu bleiben (auch wenn sie ganz stark ihren kindlichen Anteil spürt).

Tine ändert ihre innere Haltung: Sie kommuniziert klarer. Sie ist weniger gestresst Zuhause, weil sie eine innere Gelassenheit für Dinge entwickelt, die sich nicht ändern lassen – und auf der anderen Seite eine ganz deutliche Sprache und klare Worte findet, wie sie es sich Zuhause wünscht.

Das ist ein Turning-Point in der Beziehung. Anstatt den Fokus auf das Meckern, auf die Vorwürfe und (unausgesprochenen) Erwartungen zu richten, sagt Tine viel klarer und deutlicher, was sie möchte und setzt es auch um.

Tine hat ihre eigenen Glaubenssätze hinterfragt und ganz wichtig: sie hat ihren Gefühlen Raum gegeben, die sonst im Altag viel zu kurz kommen. Sie hat eine neue Klarheit darüber gewonnen, was ihr wirklich wichtig ist: eine lebendige Beziehung, in der es Unterschiede geben darf und in der man sich angenommen und gesehen fühlt.

Und was dann ganz oft auf fast magische Weise passiert, ist, dass sich unser Gegenüber ANDERS verhält als sonst. Es reagiert ANDERS. Hier wird noch einmal der Mobile Gedanke deutlich: Wenn sich unser Verhalten ändert, dann ändert sich häufig auch die Reaktion unseres Systems. Alles hängt mit allem zusammen.

Sich in diesem Unterschied dann als Paar zu erfahren ist eine tolle Chance, ins Gespräch zu gehen und für sich andere Regeln aufzustellen. Thomas lässt trotzdem immer mal was liegen, aber Tine kann in diesem Fall in ganz humorvoller Weise darauf hinweisen anstatt auszurasten. Dies kann sie nur, weil sie gelernt hat, besser für sich zu sorgen. Sich den Raum zu nehmen, den sie braucht. Systemisch ist lösungsorientiert und in die Zukunft gerichtet. Damit hilft es besonders in inneren und äußeren Konfliktsituationen.

Literatur:

Barthelmess, Manuel: Systemische Beratung. Eine Einführung für psychosoziale Berufe. Juventa, Weinheim und München, 2005.
Müller, Hoffman: Systemisches Coaching. Handbuch für die Beraterpraxis. Carl-Auer Verlag, 2008.
Rechenberg-Winter, Petra/ Fischinger, Esther: Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.
Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Reinhardt Verlag, 2003.
Schlippe, Arist von / Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2003.
Simon, Fritz B. / Rech-Simon, Christel: Zirkuläres Fragen. Systemische Therapie in Fallbeispielen: Ein Lernbuch. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg, 2000.
Tomaschek, Nino: Systemisches Coaching. 2. Auflage. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, 2009.

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